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THEMA: Der Fluch der Stojan

Der Fluch der Stojan 18 Jun 2013 23:28 #1

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Istrien gilt nicht gerade als Kletterer-Hotspot, doch für Anfänger wie wir sind die paar Felsen auf dieser Halbinsel ganz brauchbar. Der Steinbruch Zlatni Rt bei Rovinj bietet eine Vielzahl von recht leichten Routen und gleich 100 Meter befindet sich das Mittelmeer. Die Routen sind fast durchwegs gut gesichert: Kurze Hakenabstände, gute Umlenker, das Klettern findet bis auf wenige Ausnahmen im geneigten bis senkrechten Fels statt. Eine Kletterwoche in Istrien bedeutet also: drei bis vier Stunden täglich am Fels den Körper und danach am Meer die Seele baumeln lassen.

Dort an den Felsen von Zlatni Rt trifft man viele Kletterer aus Deutschland und die meisten schleppen einen dicken Kletterführer für Kroatien mit sich rum. Wir schauten uns in einem solchen Buch ein anderes Klettergebiet an: Die Vela Draga, die wir zwei Jahre zuvor schon wandernd erkundet hatten. Bis dahin waren wir der Meinung, dass die Routen dort im Schwierigkeitsgrad 5b nach französischer Skala beginnen, doch fanden wir nun im Führer einige Routen in den Graden 4a und 4b.

Ich gebe zu: Die Vorstellung, in der landschaftlich gewaltigen Vela Draga zu klettern, einem Ort, an dem Emilio Comici schon Kletterrouten erschlossen hatte, liess meine Augen glänzen. Also packten wir unser Klettergerät und fuhren einmal quer durch Istrien. In der Vela Draga taten wir uns erst schwer, die betreffenden Kletterfelsen zu finden, doch nach einigen kleineren Verirrungen standen wir vor den geplanten Routen: Die Pinčica (4b), die Stojan (4a) und die Bršljanov rub (4a).

Zuerst nahmen wir uns die Pinčica vor. Schon beim ersten Haken stellten wir fest, dass wir hier nicht mit Edelstahl-Bühlerhaken rechnen durften. Die angeschraubten Plättchen hatten ziemlich viel Flugrost – jedenfalls redete ich mir das ein, hängte die Express-Schlinge ein und kletterte weiter. Oben erwartete mich ein fester Stahlkarabiner, der mit einer Kette an zwei Bohrhaken befestigt war. Ich zog am Umlenker und stellte befriedigt fest: Das Ding hält!
Wir kletterten die Route zweimal durch und schauten uns nach den leichteren Routen um.

Am gegenüberliegenden Felsen entdeckte ich die Route Stojan und nahm sie in Augenschein. Die Wand war nahezu senkrecht, im unteren Teil waren schöne Tritte und Griffe vorhanden, durch die ganze Route zog sich ein fingerbreiter Riss, der schöne Griffe bieten würde. Aber für eine Route im Grad 4a müssten ja bis oben hin lauter fette Henkel vorhanden sein. Meine Partnerin meldete Bedenken an, sie fühlte sich nicht wohl, was auch an der Einsamkeit in der Vela Draga lag. Wir waren völlig allein. Daher einigten wir uns darauf, dass ich die Route durchklettern würde und wir danach ans Meer fahren würden.

Ich stieg ein, klippte den ersten Haken (viel Flugrost) und kletterte weiter zum zweiten Haken, einem Schlaghaken mit Ring, der wohl in dieser Wand schon viele runde Geburtstage gefeiert hatte. Ich beschloss, nicht auf diesen Haken zu vertrauen und würgte mich zum dritten Haken hoch. Spätestens hier kamen mir Zweifel daran, dass ich mich hier im unteren vierten Franzosengrad bewegte. Wo waren die ganzen fetten Henkel, die ich eigentlich hätte finden müssen? Jeder Griff war für mich gerade so an der Grenze, der Fels war bröselig, was auch meine Partnerin beim Sichern zu spüren kam.

Als ich den dritten Haken erreichte, schickte ich den Gedanken einer Rotpunkt-Begehung hinweg. Ich rief „Zu!“, setzte mich ins Seil und schaute fassungslos auf die nächsten Meter. Die Schlüsselstelle lag nicht hinter mir, sondern vor mir. Und über mir schoben sich langsam die Wolken über die Vela Draga. Auch das noch! Mit Biegen und Brechen und viel Würgen tastete ich mich zur vierten Verankerung – wieder so ein altersschwacher Schlaghaken. Aber von hier wurde die Route leichter. Ich stieg nach rechts oben und freute mich über die Griffe, die nun allmählich grösser wurden. Links von mir erblickte ich einen weiteren rostigen Bohrhaken, doch ich entschied, dass dieser unerreichbare Haken zur daneben liegenden Route gehören musste.

Pünktlich zum ersten Donnergrummeln stand ich auf dem Grat und blickte mich voller Verwunderung um. Wo zum Geier war der Umlenker? Mir dämmerte langsam, dass der Umlenker genau auf der anderen Seite des Felskopfes sein musste, wo ich aber schlichtweg nicht hinkam. Der Haken hatte doch zu meiner Route gehört, ich hätte weiter so schwer weiterklettern müssen. Zum Glück war meine Lage nicht hoffnungslos, denn ich konnte über den Grat nach links zu meiner Partnerin absteigen.

In der Stojan hingen vier Express-Schlingen und unser Kletterseil. Die wollten wir natürlich wieder aus der Wand holen, aber wie? Ich stieg wieder auf den Grat und suchte nach Möglichkeiten, einen Umlenker zu bauen. Ein Baum, um eine lange Bandschlinge herumzuschlagen? Fehlanzeige! Auf dem Grat wuchs nicht mal ein Grashalm. Ein Felskopf, der sich dazu geeignet hätte? Auch nicht! Die mickrigen Köpfchen, die sich dort befanden, waren mir zu unsicher, denn ich befürchtete, dass die Bandschlinge nach oben wegrutschen könnte. Und für den grossen Felskopf hätte ich eine 4 m lange Bandschlinge gebraucht.

An meinem Gurt befand sich noch ein jungfräulich unbenutztes Klemmkeil-Rack! Ich erinnerte mich an Erbses Comedy-Programm „Einmal unsterblich!“ Ein ganzer Saal voller Kletterer und Erbse fragt von der Bühne: „Wer von euch hat ein Klemmkeil-Rack? Hände hoch!!“. Etwa 80 % der Hände gehen nach oben. „Wer hat es schon benutzt?“ Nur noch 20 % der Hände oben. „Und wer ist schon reingefallen?“. Jetzt blieben die Hände bis auf wenige Ausnahmen unten. Wie haben wir damals gelacht!!! Doch jetzt ist mir nicht nach Lachen zumute, doch ich muss jetzt hier auf diesem Grat in der Vela Draga mit Klemmkeilen einen Umlenker bauen.

Jetzt beginnt der Teil meiner Erzählung, von deren Nachahmung ich hier und heute aufs Deutlichste abrate! Finger weg von solchen Ideen! Meine Partnerin warnte mich damals schon und erklärte mich für wahnsinnig, doch ich dachte in diesem Moment nur an die Express-Schlingen und mein Stolz redete mir ein, dass ich jetzt eine Möglichkeit finden würde, sie herauszuholen.

Nach 15 Minuten waren zwei Klemmkeile gelegt und der Himmel hatte sich weiter verdunkelt. Ich stieg wieder ab zu meiner Partnerin und wir entschieden, dass ich die Route nochmals toprope klettern würde. Aber zuerst wollte ich einen Test machen, ob mein Umlenker auch hielt. Ich kletterte drei Meter hoch, hängte die unterste Express-Schlinge aus, rief „Zu!“ und setzte mich ins Seil. Die Klemmkeile hielten! Sehr gut! Um noch sicherer zu gehen, zappelte ich noch etwas herum. Dann ein Knall! Steine flogen uns entgegen! Ich sackte zwei Meter ab! Ein Klemmkeil rutschte am Seil herunter und schlug direkt auf die oberste Express-Schlinge auf.

Mein erster Gedanke war: „Der zweite Klemmkeil hat gehalten! Darf ich jetzt meine Hand heben, wenn der Erbse die dritte Frage stellt?“ Meine Partnerin hätte mich am liebsten für meine Dummheit verprügelt. Ich stieg wieder aussen herum auf den Grat und erkannte, warum der Klemmkeil nicht gehalten hatte: Durch mein Gewicht hatte ich einen Stein in der Grösse eines Handballs aus dem Grat herausgesprengt. Ich baute den zweiten Klemmkeil wieder aus und stieg ab.

Und jetzt öffnete der Himmel seine Schleusen. Wir schmissen das Seil in den Seilsack und kauerten uns unter eine Pellerine. Da standen wir nun eine Dreiviertelstunde und die Stojan wurde nasser und nasser. Und immer noch hingen drei Express-Schlingen drin. Der Regen wollte nicht aufhören, also entschieden wir, vorerst zum Auto zu gehen und dort das Ende des Schauers abzuwarten.

Beim Parkplatz erblickten wir einen VW-Bus mit Esslinger Nummer – einen Bus, wie ihn nur echte Kletterer fahren. Wir brauchen wohl nicht zu erwähnen, dass wir keinen Bus fuhren. Im Wagen sass ein Pärchen, die beiden sahen sogar wie Kletterer aus. Wir klopften an und erfuhren, dass sie sich die Kletterwände in der Vela Draga mal anschauen wollten. Nachdem der Regen aufgehört hatte und wir unsere missliche Lage geschildert hatten, packte die Frau ihren Klettergurt und die beiden folgten uns.

Stojan, unser Seil und die drei Express-Schlingen erwarteten uns so, wie wir sie zurückgelassen hatten. Wir legten unser Seil wieder zurecht und die Frau stellte nun die alles entscheidende Frage: „Kletterst Du oder soll ich klettern?“. Nach den Erfahrungen, die ich mit Stojan schon gemacht hatte, hätte meine Antwort wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Aber der Stolz ist solch eine überflüssige, blöde und vor allem eine gefährliche Eigenschaft. Ich überlegte tatsächlich noch drei Sekunden, ob ich das Ding bei nassem Fels klettern sollte, obwohl ich bei trockenem Fels daran schon fast kollabiert wäre.

Demut ist hingegen eine feine, nützliche und zuweilen lebensrettende Eigenschaft. Ich brachte sie zum Ausdruck, indem ich sagte: „Ich bin froh, wenn Du kletterst!“. Also fädelten wir uns ein und die Frau kletterte los. Meine pflichtbewusste Partnerin hielt uns auf und wies uns auf den Partnercheck hin. Die Frau prüfte mein Tube und ich schaute verblüfft auf ihren Klettergurt: „Ähm! Keine Ahnung wie Du dich da eingebunden hast, aber das wird wohl schon stimmen!“ Toller Partnercheck!! Wirklich!! Aber wie soll ich einen Doppelten Bulinknoten erkennen, wenn ich nur den Doppelten Achterknoten kenne? Ich habe beim Klettern noch viel zu lernen!

Die Frau flashte die Stojan bei nassem Fels hoch, fädelte sich oben durch den eingerosteten Umlenker und holte uns beim Ablassen die Express-Schlingen aus der Wand. Wieder unten angekommen sagte sie zu uns: „Ich würde die Route als 5a oder 5b bewerten.“ Sie machte die Gegenprobe mit ihrem Kletterführer Kroatien, wo die Stojan mit einer 5b drinstand. Wir dachten in diesem Moment echt, wir seien bekloppt oder hätten uns im Führer der Leute in Rovinj verguckt. Zum Glück hatten wir ein Foto gemacht und schauten sofort nach. Stojan war darin mit 4a bewertet. Ich schaute Stojan an und fragte mich, welche Pilzchen der Autor des Buches wohl gefuttert hatte, bevor er die Stojan bewertet hatte.

Ich habe an diesem Tag viel gelernt:
- Vertraue auf dein Bauchgefühl!
- Höre auf die Frauen!
- Bewertungen in Führern können falsch liegen!
- Ich darf Klemmkeile legen, sollte sie aber nicht belasten!
- In der Vela Draga wird es regnen – ganz bestimmt!
- Der Doppelte Achter ist nicht der einzige Einbindeknoten!
- Stolz ist doof! Demut ist cool!
- Kletterer helfen einander!
- Mit Opferkarabinern kann man Express-Schlingen retten!

Zwei Tage später kam dann auch die Erleuchtung: Ich hätte bloss das Seil nehmen, es um den grossen Felskopf schlingen und mich daran mit dem Tube abseilen müssen. Das ist wie ein doofer Treppenwitz...
"Wenn du allein bist, bist du still, und wenn du still bist - vor allem wenn du zwei Monate still bist-, bewegen sich Dinge in dir."
Silvia Vidal
Letzte Änderung: 18 Jun 2013 23:33 von BLR.
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Der Fluch der Stojan 18 Jun 2013 23:45 #2

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beeler schrieb:
Zwei Tage später kam dann auch die Erleuchtung: Ich hätte bloss das Seil nehmen, es um den grossen Felskopf schlingen und mich daran mit dem Tube abseilen müssen.
Das ging mir während des Lesens deiner Geschichte bereits durch den Kopf :lol: Klasse ! ;)
je genauer du planst, desto härter trifft dich der Zufall.

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Der Fluch der Stojan 19 Jun 2013 18:44 #3

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Standplatzbau mit Klemmkeilen... also lt. Pit Schubert geht das schon... ist also nicht gegen die Lehrmeinung...
"Ich wurde oft falsch verstanden. Häufig unternahm ich Dinge, die für andere eine Provokation waren."
Walter Bonatti (1930-2011)
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