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THEMA: Panorama-Artikel: Risiko und Tod am Berg

Panorama-Artikel: Risiko und Tod am Berg 23 Nov 2013 09:23 #1

  • kletterkiki
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Hier ein Artikel aus dem aktuellen Panorama Seite 24 und 25:

"So weit im Leben, so nah am Tod
Berge bedeuten intensives (Er-)Leben – doch absolute Sicherheit vor Gefahr und Tod ist nicht zu haben.
Der Psychologe und Krisenseelsorger Dr. Andreas Müller-Cyran skizziert dieses Grund-Dilemma des
Bergsports und zeigt, wie man mit traumatischen Erfahrungen umgehen kann.

Wer in die Berge geht, sucht
das Leben: Die körperliche
Betätigung, die Beanspruchung
vielleicht bis an die eigenen
Grenzen, die Bewegung in der Natur,
die alpine Umgebung mit ihren Schwierigkeiten
intensivieren das Lebensgefühl. So
unmittelbar und ausgesetzt sich selbst und
die Natur erleben wie im Gebirge, das ist
sonst vielleicht nur auf dem Meer möglich.
Dazu gehört immer, dass Natur mehr und
größer ist, als wir Menschen (uns) fühlen
und wahrnehmen; dadurch zieht sie an und
fasziniert. Was fasziniert, kann auch Angst
machen, manchmal Todesangst – die Kehrseite
des intensiveren (Er-)Lebens am Berg.
Und diese Angst ist keine Angststörung, keine
unbegründete Furcht vor Rampenlicht,
Aufzügen oder Spinnen. Nein: Wer im alpinen
Umfeld Angst spürt, sollte sie ernst nehmen
– denn ihre ursprüngliche Funktion ist,
Leben zu erhalten.
Leben an der Grenze
Die Qualität des Lebens wird gesteigert
wahrnehmbar, wo es an die Grenze kommt.
Aber dort kann es auch verloren gehen. Natur
ist nicht nur Herausforderung, sie kann zur
Überforderung werden, übermächtig. Dann
geht Menschenleben verloren. Diese Feststellung
ist durchaus nicht neu, sie ist banal.
Wenn diese theoretische Banalität aber zur
persönlichen Realität wird: Dann sind Schrecken
und Entsetzen bei Überlebenden und
Hinterbliebenen maximal. Zwar sterben die
meisten Menschen am Berg durch Herzinfarkt
und nicht durch Alpinunfälle; intensive
Medienberichte mögen da die Wahrnehmung
täuschen. Aber das Risiko existiert:
Schon ein Stolpern kann im Steilgelände
den Tod durch Absturz bedeuten. Ob Risiko
die schwierige Tour attraktiv(er) macht, sei
dahingestellt. Fest steht: Wer sich in ausgesetztes
alpines Gelände begibt, weiß, dass er
bei aller Vorsicht, trotz bester Ausrüstung
und großer Erfahrung, nie hundertprozentig
sicher sein kann. Wem das Risiko zu groß
oder zu unkalkulierbar ist, der muss es nicht
eingehen. Wer sich aus guten Gründen darauf
einlässt, sollte Risiken aber auch bewusst
wahrnehmen und aktiv reduzieren.

Dazu gehört auch die Akzeptanz der Tatsache,
dass jede Bergtour in einer Tragödie enden
kann. Wer das verleugnet, verkennt die
Realität – und gefährdet sich und andere.
Tragödien sind nicht häufig, aber es gibt
sie. Wer jemals damit konfrontiert wurde,
weiß, dass sie das Leben verändern – nicht
erst dann, wenn man ihre ganze Tragweite
begreift, sondern sobald sie eintreten. Die
vertraute Umgebung erlebt man plötzlich als
fremd und unheimlich. Einfachste Gedanken
und Maßnahmen stehen unter akutem psychischem
Schock nicht mehr zur Verfügung.
Wer Hilfe holen möchte, dem kann es mitunter
extrem schwerfallen, den Unfallort für
die Bergretter klar zu bezeichnen.
Wirklichkeit in Auflösung
Denn im Moment des Unglücks funktionieren
wir mental völlig anders. Erinnern
und Verstand sind reduziert. Auch Gefühle,
vor allem Trauer, sind in den ersten Stunden
(noch) nicht vorhanden. Warten auf Hilfe
bei Todesgefahr kann sich wie „eine Ewigkeit“
anfühlen: Das Zeitgefühl ist verloren,
aus Minuten werden Stunden. Nicht wenige
Menschen haben den Eindruck, was um sie
herum vorgehe, sei gleichsam ein Traum.
Man erlebt, als sei man im falschen Film;
Wirklichkeit scheint sich aufzuheben. Auch
die Person löst sich auf: Viele von Unglücken
Betroffene fühlen sich in befremdlicher Weise
nicht mehr selbst als Urheber dessen, was
sie tun und sagen. Sie beschreiben, wie automatisch,
wie ferngesteuert zu handeln.
Manche sehen sich aus einer Kameraperspektive
in der Szene stehen. Andere hören
sich beim Reden zu – und wundern sich, wie
sie nach außen relativ cool und gefasst wirken.
Geräusche werden ausgeblendet, manche
Szenen werden wie in Zeitlupe erinnert.
In der Psychologie spricht man von „ichfremden
Erfahrungen“.
Ein kleiner Trost: Diese Veränderungen bedeuten
nur selten den Beginn einer Krankheit
(Traumafolgestörung). Im Gegenteil: Der
Sinn dieser mentalen Extremfunktion liegt
darin, sämtliche inneren Ressourcen zu aktivieren,
um eine als lebensbedrohlich wahrgenommene
Situation zu überleben. Dieses
Überlebensprogramm entstammt der Frühzeit
des Menschen: Wenn der Säbelzahntiger
angreift, dauert Nachdenken zu lange. In Zeiten
von Mobiltelefon, Satellitenortung und
Luftrettung ist diese Aktivierung mentaler
Ressourcen leider nicht mehr immer sinnvoll,
im Gegenteil. Wenn man wieder in sicherer
Umgebung ist und über sein Verhalten
nachdenkt, entstehen häufig massive Schuldgefühle:
Man meint, hinter seinen eigenen
Ansprüchen an „vernünftiges, zielführendes“
Handeln zurückgeblieben zu sein.
Die Psychotraumatologie kennt ein Phänomen,
das als „Schuld der Überlebenden“
bezeichnet wird: Nach der Katastrophe sind
Überlebende nicht froh und dankbar dafür,
überlebt zu haben. Sie grübeln vielmehr darüber
nach, was sie hätten tun können oder
was sie versäumt haben, um das Unglück zu
vermeiden oder den Verunfallten zu retten.
Das kann im schlimmsten Fall bis zum Versuch
einer Selbsttötung gehen. Es werden
immer Dinge passieren, vor denen wir hilflos
und ohnmächtig sind – das zu akzeptieren
fällt besonders bei Unglücken mit Todesfolge
unendlich schwer.
Leider sind veraltete Vorstellungen der
Trauerpsychologie aus den 1970er Jahren
noch weit verbreitet: Wir müssten den Verstorbenen
loslassen. Es entspricht dagegen
einem tiefen menschlichen Bedürfnis, die
Trauer um liebe Menschen, die wir verloren
haben, mit größter Beständigkeit zum Ausdruck
zu bringen: Nichts ist dauerhafter als
Grabsteine. So darf der trauernde Mensch
sein Leben lang eine Erinnerung an den Verstorbenen
behalten. In die Erinnerung kann
sich Freude mischen, aber es wird auch immer
Trauer mit dabei sein. Auch wenn das
nicht angenehm ist: Es ist keine Krankheit,
sondern Ausdruck tiefer Menschlichkeit.
Wer die Berge liebt und in die Berge geht,
liebt und will das Leben. Wer am Berg stirbt,
darf von Überlebenden und Hinterbliebenen
ein Leben lang im Erinnern bewahrt
werden."

Quelle: www.alpenverein.de/DAV-Services/Panorama-Magazin/
"Ich wurde oft falsch verstanden. Häufig unternahm ich Dinge, die für andere eine Provokation waren."
Walter Bonatti (1930-2011)
Letzte Änderung: 23 Nov 2013 09:42 von kletterkiki.
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