Wie konnte ich nur so lange auf dieses Gefühl verzichten?
Lesenswerter Artikel über die Faszination beim Klettersteigen:
www.stern.de/reise/klettersteige-im-allg...98.html?utm_campaign
(mit Fotos und Übersichtskarte)
Klettersteige im Allgäu: Nervenkitzel für Schwindelfreie:
Tipp für Outdoor-Enthusiasten im Herbst: Eine Tour hoch in den Bergen, über Abgründe und Brücken, die aus nur vier Stahlseilen bestehen. Wir stellen zwei herrliche Klettersteige im Allgäu vor.
Von Christine Zerwes
Endlich bin ich zurück, ganz oben. Von 200 Metern blicke ich auf steil abfallende Wiesen, die Baumgrenze, die schiefergrauen Felsen. Über die Allgäuer Alpen, die mit den Gipfeln Österreichs verschwimmen. Manche Spitzen liegen so hoch, dass die Wolken sie verhüllen. Und alles, was ich fühle, ist Glück. Ein Kribbeln, mit dem sich eine Wärme ausbreitet in meinem Körper bis in die Fingerspitzen – obwohl das Thermometer an der Nebelhornbahn nur herbstliche zwölf Grad misst. Wie konnte ich nur so lange auf dieses Gefühl verzichten?
Bei meinem Vater, in einem Dorf südlich von München, liegt ein Buch im Regal. Es heißt "Münchner Hausberge" und lagert dort, seit ich denken kann. Jede Bergtour, die meine Eltern mit meiner Schwester und mir gemacht haben, ist dort vermerkt, mit Monat, Jahreszahl und Notizen zur Tour. War sie schwierig, besonders schön, hat sich jemand das Knie aufgeschlagen oder ist auf einem Kuhfladen ausgerutscht? Auf der Seite mit dem Berg Zwiesel steht in der schwer lesbaren Schrift meines Vaters: Erste Bergtour mit Christine, Oktober 1982. Damals war ich vier Jahre alt. Auf Gipfel steigen, am Felsen klettern, Ski fahren. Gehört seit damals alles zu meinem Leben. Eigentlich. Bis ich 2011 rund 800 Kilometer Richtung Norden gezogen bin, nach Hamburg.
Eine zehn Meter hohe Leiter führt auf den Grat
Nun stehe ich am Anfang des Hindelanger Klettersteigs und ziehe den Klettergurt fest. Bergführer Michael Schott begleitet mich auf dieser Tour. Er arbeitet für die Alpinschule Oberstdorf und führt seit mehr als 30 Jahren Menschen in die Berge. "Falsch machen kann man eigentlich nichts, solange man nicht danebentritt", sagt er.
Der Hindelanger Klettersteig ist einer der längsten und vom Ausblick schönsten in den deutschen Alpen, sagt Schott. Auf einem 8,5 Kilometer langen Grat führt er vom Nebelhorn über mehrere Gipfel bis zum Großen Daumen. Das Gute ist: Man kann an mehreren Stellen abbrechen, je nachdem, was man sich zutraut oder wie viel Zeit man hat.
Weil weder ich noch mein Bergführer meine übrig gebliebenen Fähigkeiten einschätzen können, nehmen wir uns die eineinhalbstündige Tour bis zum westlichen Wengenkopf vor. Eine zehn Meter hohe Leiter führt auf den Grat. Ich steige hinauf, hinter mir nur Hänge, Felsspalten und weit unten die winzigen Häuser im Tal. Der Klettergurt um meine Hüften fühlt sich gut an. Das daran befestigte Klettersteig-Set habe ich mit Karabinern am Stahlseil eingeklinkt. Der Alpenverein hat die Route hier in den 70er Jahren im Fels verschraubt. 2003 wurde sie überholt, stelle ich beruhigt fest. Oben öffnet sich der Blick noch weiter, Wolken und Sonne tauchen das Land in Licht und Schatten. Ich bin erleichtert, dass mir die Höhe nach der langen Berg-Abstinenz nichts ausmacht, und genieße die Aussicht über Hunderte Gipfel.
Das ist das Wunderbare an den Bergen: Im Tal machen sie den Menschen demütig und klein, doch erklimmt er sie, erfasst ihn das Hochgefühl, alles zu schaffen, über der Welt zu stehen. Frei von Sorge und Schwere.
Bald schon habe ich vergessen, wie lange ich nicht mehr geklettert bin. Der Weg ist anstrengend, aber nicht zu steil. Nach ungefähr zwei Stunden erreichen wir den Gipfel. Es zieht in meinen Oberschenkeln, aber ich will mehr. Noch anspruchsvoller, noch höher. "Dann fahren wir noch zur Kanzelwand rüber, zum Sportklettersteig", sagt Michael Schott.
"Links rum ist's leichter, rechts rum ist's schöner."
Der Hindelanger ist ein alpiner Klettersteig, die Route wurde entlang des Grats gebaut, der zu den Gipfeln führt. Sportklettersteige werden für den Spaß an der Herausforderung angelegt, mit extra steilen Passagen, Spalten und Brücken über Abgründe. Ich bin begeistert.
Wir fahren mit der Seilbahn hinauf zum Anfang des Walser Klettersteigs. Es geht steil los und dann steil weiter. "Hier kann man auf beiden Seiten hoch", ruft Michael mir zu. "Links rum ist's leichter, rechts rum ist's schöner." Klar, dass ich rechts gehe, mein Ehrgeiz ist erwacht, wenn meine Muskeln auch schmerzen. Wir steigen durch eine Spalte, entlang an einem Überhang. Meine Hände werden rot, weil ich das Seil und den rauen Felsen so fest greifen muss. Zwischendurch sehe ich in die Tiefe. Es ist wunderbar. "Gleich kommen wir an eine schöne Brücke", sagt Michael. Er strahlt eine faszinierende Ruhe aus. Vielleicht würde ich das auch, wäre ich wie er vor der Schreibtischarbeit jeden Morgen zwei Stunden auf dem Berg.Die "Brücke" besteht aus vier Drahtseilen über einem Abgrund: ein Seil für die Füße, drei Seile für die Hände. Michael überquert das Konstrukt und blickt aufmunternd zu mir zurück. Balancieren ist nicht gerade meine Stärke. Jetzt bin ich froh, dass ich mit Gurt und Seil gesichert bin. Ich gehe los, die Füße seitlich zum Berg, die Hände fest um die oberen Seile. Im Anstellschritt lege ich die 26 Meter zurück und fühle mich immer sicherer, je näher die andere Seite rückt.
Noch ein paar Kletterpassagen, und wir haben es geschafft. Wir waren nur etwa eine Stunde unterwegs, aber die war kräfteraubend. Meine Arme und Beine sind müde. Beim Abstieg kommen wir am Wegweiser "2-Länder-Klettersteig" vorbei. "Der ist auch schön", sagt Michael, "allerdings ist er Schwierigkeitsgrad D, wir haben jetzt B gemacht, die Skala geht bis F." Und dann fügt er hinzu: "Aber den würdest du auch schaffen." Es ist das Schönste, was mir mein Bergführer an diesem Tag meiner Alpen-Renaissance sagen konnte. Stolz folge ich ihm zur Seilbahn, die uns ins Tal bringt.
Drei Wochen später, zurück im Norden, bekomme ich Post. Im Kuvert liegt der Mitgliedsausweis des Deutschen Alpenvereins, Sektion Hamburg. Ich bin wieder im Spiel.